Am 3. April 2021 waren in Stuttgart an mehreren Plätzen Demonstrationen angemeldet. Hintergrund war der Jahrestag der ersten von Michael Ballweg in Stuttgart veranstalteten Demonstration gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen im April 2020. Wenig später führte Ballweg das Label „Querdenken“ ein, welches bundesweite Verbreitung erfuhr.
Etwa 15.000 Personen versammelten sich zu dieser Corona-Geburtstagsparty in Stuttgart. Während ein Teil sich bereits ab 11.30 Uhr am Marienplatz versammelten und durch die Stadt zog, fand auf dem Cannstatter Wasen ab 16 Uhr die große Abschlusskundgebung von „Querdenken 711 – Stuttgart“ statt.
Im Folgenden werden wir versuchen die Demonstrationen aus kritischer, antifaschistischer Perspektive einzuschätzen.
Reaktionär, rechts, rechtsextrem?
Unserer Beobachtung nach stellten ‚klassische‘ extreme Rechte nur eine relativ kleine Minderheit auf den Demonstrationen in Stuttgart dar. Wo diese auftraten, waren sie aber geduldet oder wurden willkommen geheißen. Die Demonstrationen können also zu Recht als ‚rechtsoffen‘ bezeichnet werden.
Die extreme Rechte versuchte diesen offenen Zugang entsprechend zu nutzen. 12 bis 15 Aktivist/innen der Identitären, eine Spielart der neofaschistischen so genannten „Neuen Rechten“, traten beispielsweise mit dem Transparent „Heimatschutz statt Mundschutz“ in Erscheinung.
Die NPD trat mit mehreren Personen unter ihrem Tarn-Label „Stoppt den Corona-Wahnsinn“ auf.
Erstaunlicherweise ließen sich nur relativ wenige AfD-Funktionär/innen oder AfD-Gliederungen auf der Stuttgarter Demonstration beobachten.
So lässt sich bisher nur eine Beteiligung des AfD-Ortsverbands Göppingen, der Jungen Alternative Stuttgart únd der Jungen Alternative Bielefeld nachchweisen.
Die AfD-Abgeordneten Udo Hemmelgarn (AfD-MdB NRW) und Thomas Röckemann (AfD-MdL NRW) nahmen ebenfalls teil.
Offenbar nahm aber kein AfD-MdL oder AfD-MdB aus Baden-Württemberg teil.
Der ehemalige AfD-Landtagsabgeordnete Dr. Heinrich Fiechtner war allerdings vor Ort und sorgte mit seiner der Hakenkreuzfahne nachempfundenen Maske und seinen menschenverachtenden Scherzen für einen Skandal, auch weil er sich dabei gut mit zwei Polizisten verstand (LINK)
Das AfD-nahe „Zentrum Automobil“, eine Pseudo-Gewerkschaft, nahm ebenso mit mehreren Personen teil.
Darüber waren wichtige extrem rechte Einzelpersonen in Stuttgart anzutreffen, wie etwa Ignaz Bearth aus der Schweiz, Simon Kaupert („Ein Prozent“), Matthias Schneider („Bürgerprotest Speyer“) oder Nicole Schneiders (rechte Szene-Anwältin, Ex-NPD-Mitglied).
Rechte auf der Bühne
Die Mehrheit der Demonstrierenden dürfte allerdings über die Einbindung in diverse Telegram-Gruppen hinaus nicht organisiert gewesen sein.
Problematischer als die relative kleinen Gruppen oder Einzelpersonen der ‚klassischen‘ extremen Rechten waren verschwörungsideologische Inhalte in Redebeiträgen auf der Bühne, die offenbar von der Mehrheit des Publikums geteilt wurden.
Entgegen der Beteuerungen und Bekundungen von „Querdenken 711 – Stuttgart“ waren extreme Rechte nicht nur im Publikum, sondern auch auf der Redebühne vertreten.
Neben den üblichen Redner/innen wie Michael Ballweg aus Stuttgart oder dem Moderator Nana Domena („Nana Lifestyler“) aus Köln, traten auch Personen auf, die eindeutig der extremen oder esoterischen Rechten zuzuordnen sind.
So wurde per Lifestream aus Georgien der Journalist Billy Six zugeschaltet. Six ist Reporter der extrem rechten Wochenzeitung „Jungen Freiheit“.
Der Redner Dr. Stefan Lanka bezog sich auf der Querdenken-Bühne offen auf Ryke Geert Hamer (1935-2017), einen antisemitischen Quacksalber, der die Medizin-Sekte „Germanische Neue Medizin“ begründete (LINK).
Der Redner Vincent Dietz aus Lüneburg schwadronierte in Reichsbürger-Manier von der „Verfassungsgebenden Versammlung“. Dieser Redebeitrag war selbst „Querdenken“ peinlich, deren Moderator Domena den Redner nach einiger Zeit zu unterbrechen versuchte.
Neben den Redner/innen gab es auf der Bühne auf dem Cannstatter Wasen auch Musikbeiträge. Die dabei auftretende Musikerin „Wivvica“ hatte 2012 und 2015 unter dem Künstlernamen „Crystal Voice“ für die Reichsbürger-Gruppe „Königreich Deutschland“ um Peter Fitzek gespielt. Mit eben jener Gruppe steht der Ober-Querdenker Ballweg nach eigenem Bekunden seit Oktober 2020 in Kontakt.
Nicht ungefährlich
Auch wenn es sich bei dem Großteil der Pandemie-Leugner/innen in Stuttgart am 3. April 2021 vor allem um Verschwörungsgläubige und Esoteriker/innen handelte, die eher als reaktionär einzuschätzen.
Reaktionär sind die meisten, weil sie wissenschaftsfeindlich sind und reaktionäre, im Sinne von rückwärtsgewandte, ‚Utopien‘ verfolgen. Das geht von Anastasia-Siedlungen über eine soziale Dreigliederung nach Rudolf Steiner bis hin zu den Selbstverwaltern und Reichsbürger/innen.
Die Mehrheit ist bisher nicht extrem rechts, ungefährlich sind sie deswegen aber nicht.
Sie haben keine Problem extreme Rechte auf ihren Demos zu dulden bzw. einzubinden.
Auch aus den Reihen der unorganisierten Pandemie-Leugner/innen gab es, wie zuvor in Kassel auch, mehrere Anfeindungen und Angriffe auf Medien-Vertreter/innen (LINK LINK2).
Hier lässt sich, ebenso wie in den Äußerungen in den Telegram-Gruppen, eine gesteigerte Aggressivität feststellen. Diese richtet sich wahlweise gegen Medien oder Gegendemonstrierende, teilweise auch gegen die Polizei. In Stuttgart wurde diese aber auf Grund des toleranten Umgangs mit Regelverstößen von den Querdenker/innen eher als positiv wahrgenommen.