Am 22. März 2025 wurde auf den Straßen Stuttgarts sichtbar, dass auch in Baden-Württemberg eine neue junge Generation von Neonazis existiert.
Das „Antifaschistische Dokumentations- und Informations-Zentrum Baden-Württemberg“ (ADIZ BaWü) ordnet diese Entwicklung allgemein und speziell die Demonstration in Stuttgart ein.
Rückkehr der Neonazi-Gruppen?
In den letzten Jahren gab es in Baden-Württemberg kaum noch öffentlich auftretende Neonazi-Gruppierungen, sogenannte „Kameradschaften“, eine partei-unabhängige Organisationsform, die sich selbst teilweise auch als „Freie Kräfte“ bezeichneten und in den 1990er Jahren entstanden ist.
Ihr Verschwinden verwundert im Rückblick. Waren doch die 1990er Jahre bis in die 2010er Jahre vielerorts auch in Baden-Württemberg diese Gruppen anzutreffen, die alle Menschen in ihrer Region terrorisierten, die nicht in ihr rechtsextremes Weltbild passten.
Spätestens mit dem staatlichen Verbot der „Autonomen Nationalisten Göppingen“ (AN GP) 2013 konnte das klassische Modell der Neonazi-Kameradschaft im Ländle als gescheitert gelten. Gleichzeitig verlor auch allgemein die klassische Neonazi-Polit-Identität an Attraktivität. Auch der Versuch ab 2005 als „Autonome Nationalisten“ Kleidungsstile der linksradikalen Autonomen zu kopieren, änderte nach einem kurzen Hype, nichts daran. Extrem rechte Jugendliche und junge Erwachsene orientierten sich ab 2011 eher in Richtung der neofaschistischen, sich selbst als neurechts verstehenden „Identitären Bewegung“ (IB) oder ab 2013 hin zur AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA). Ein anderer Teil formte über eine gemeinsame Musik, Symbolik und historische NS-Referenzen eine Neonazi-Subkultur, die aber kaum nach außen hin öffentlich auftrat.
Zwar tauchten immer mal wieder neue kleine Neonazi-Kameradschaften auf, diese Gruppen erwiesen sich allerdings fast immer nicht als sonderlich beständig.
Auch das Phänomen der extrem rechten Bruderschaften hielt in den 2010er Jahren in Baden-Württemberg Einzug, erfuhr aber nur eine sehr begrenzte Verbreitung. Dieses Modell richtete sich eher an Ältere, kopierte Hierarchien und Strukturen von Motorradrocker-Gruppen, war ideologisch flexibler (Neonazis waren willkommen, aber nicht alle Mitglieder waren klassische Neonazis) und häufig fungierte man auch als Ersatz-Familie.
In Baden-Württemberg gab es etwa Bruderschaften wie die „Berserker Pforzheim“, die „Brothers of Honor – Süddeutschland“ oder die „Bruderschaft Deutschland – Sektion Süd“.
Gleichzeitig machten Gerichtsprozesse oder geleakte Bilder und Kommunikationen immer wieder sichtbar, dass es auch extrem rechte Zusammenhänge vornehmlich junger Männer gab, die kleine Gruppen, oft als ‚Sauf-Kameradschaften‘, gebildet hatten, aber das Licht der Öffentlichkeit scheuten und nur als Gruppe im Verborgenen existierten. Vermutlich um staatlicher Repression und antifaschistischer Gegenwehr und Recherche zu entgehen. Das Schicksal des „Sturm Nord-Württemberg“ zeigte wie schnell so etwas gehen konnte. Der „Sturm Nord-Württemberg“ gründete sich 2020, löste sich aber nach kritischen Medien-Berichten und Hausdurchsuchungen schnell wieder auf.
So fand sich lange Zeit kaum eine einzige öffentlich auftretende Neonazi-Kameradschaft in ganz Baden-Württemberg. Das änderte sich auch mit der Gründung der AfD und deren ersten Wahlerfolg in Baden-Württemberg 2015 nicht. Interessanterweise folgte dem Rechtsruck auf der parlamentarischen Ebene keiner in außerparlamentarischen Bereich und schon gar nicht in der neonazistischen Subkultur, die in Baden-Württemberg weitgehend unorganisiert existierte.
Neonazi-Kleinstparteien wie „die Heimat“ (ehemals: NPD) sowie deren Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ (JN), die fragmentierte NPD, „Die Rechte“, „Neue Stärke-Partei“ (NSP) oder „Der III. Weg“ und deren „Nationalrevolutionäre Jugend“ waren und sind in Baden-Württemberg schwach bis gar nicht mehr („Die Rechte“, NSP) vertreten und werden zum Teil auch in antifaschistischen Kreisen überschätzt.
Die einzige länger aktive, öffentlich autretende Neonazi-Kameradschaft in Baden-Württemberg entstammte einer Abspaltung von „Der III. Weg“ und nannte sich „Nationale Sozialisten Württemberg“.
Nach deren Verschwinden entstanden zwei neue Kameradschaften im Umfeld der zwar neofaschistischen, aber nicht neonazistisch ausgerichteten „Identitären Bewegung“ (IB). Beide entfernten sich allerdings mit der Zeit von der IB. Offenbar waren beide eher als identitärer Wildwuchs entstanden denn als gezielte IB-Ortsgründung. Zuerst entstand 2021 die „Revolte Pforzheim“ (RP) und im Herbst 2023 „Zollern-Jugend Aktiv“ (ZJA) im Zollernalbkreis.
Ursprünglich aus dem IB-Dunstkreis stammend zog es sie in neonazistische Gefilde. Die PR näherte sich „Der III. Weg“ und die ZJA der „die Heimat“ bzw. deren Jugendorganisationen an. Diese Nähe schließt aber keinesfalls eine gewisse Sympathie für die AfD aus, deren Veranstaltungen und Demonstrationen man teilweise auch besucht.
Bereits mit den rechts-offenen Corona-Protesten ab 2020 kam es zur Neugründung von Gruppen („Pforzheim Revolte“) oder zu einem Wachstum bestehender Strukturen (z.B. „Der III. Weg“), die die Demonstrationen als Treffpunkte und Rekrutierungs-Orte benutzten. Spätestens ab Mitte 2024 war bundesweit eine Gründungsboom von ‚Jungfascho‘-Gruppen festzustellen. Besonders in der Mobilisierung gegen Pride- und CSD-Paraden fand sich auf der Straße zusammen, was sich bereits im Internet als eine Art Online-Kameradschaft gebildet und vernetzt hatte. Davon berichtet auch die sehenswerte ZDF-Dokumentation „Jung. Radikal. Organisiert.“
Die Demonstrationen gegen queere Veranstaltungen schufen ein gemeinschaftsbildendes Ereignis. Neue Gruppen-Namen auch in Baden-Württemberg tauchten auf, wie z.B. „Jung und Stark“ Baden-Württemberg, der „Deutsche Stör-Trupp South“, „Unitas Germanica Baden-Württemberg“.
Ebenso tauchten neue Accounts mit Baden-Württemberg-Bezug auf, wie etwa „Stabile Patrioten Gomaringen“, „Rhein-Neckar-Revolte“ „Kinzigtal-Revolte“ oder „Ostalb-Revolte“. Vermutlich waren bzw. sind das Projekte von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen, die versuchen durch Sympathisanten-Sammlungen online Gruppen zu initiieren. Bilder belegen immerhin, dass sich vereinzelt Gruppen auch offline zusammen gefunden haben.
Inhaltlich vertraten die neuen Jungnazi-Gruppen einen ideologischen Mix aus Neonazismus (Bezug auf den historischen Nationalsozialismus), Neofaschismus (Bezug auf faschistische deutsche und ausländische Traditionen) und Deutschnationalismus. Während ‚alte‘ Neonazis die republikanischen Farben des Schwarzrotgold als Fahne der „Judenrepublik“ noch abgelehnt hatten, hat die junge Generation da weniger Bedenken. Das republikanische Schwarzrotgold findet ebenso Verwendung wie das antirepublikanische Schwarzweißrot. NS-Symbolik wie die Schwarze Sonne wird ebenso verwendet wie der Bundesadler. Man scheint ideologisch flexibler, auch im Freund*innen-Kreis einzelner Mitglieder schlägt sich durchaus die Realität des Einwanderungs-Bundesland Baden-Württemberg nieder.
Man ist gegen queere Menschen, gegen Linke, gegen Geflüchtete und abstrakt auch gegen Migrant*innen allgemein, aber teilweise auch bereit zu einer gewissen Toleranz bei Freund*innen oder z.B. gegenüber gleichgesinnten Menschen mit Migrationsgeschichte.
Die Demonstration in Stuttgart mit starker Neonazi-Beteiligung Stuttgart am 22. März 2025:
Am 22. März 2025 fand unter dem Motto „Gemeinsam für Deutschland“ in der Innenstadt von Stuttgart zu einem extrem rechten Aufmarsch, der zeitgleich in den meisten anderen Bundesländern stattfand.
Die Demonstrationen forderten „flächendeckende […] Grenzkontrollen“ und „Schutz der Bevölkerung“, aber eigentlich ging es vor allem zum eine Stärke-Demonstration und Vernetzung.
Initiiert wurde zeitgleiche Demonstrations-Serie von Dennis Prakenings und Sascha Dominikowski aus Schleswig Holstein.
Insgesamt gingen etwa 1.500 extreme Rechte und Reaktionäre in Stuttgart auf die Straße und 2.500 protestierten dagegen. Die Beteiligten der extrem rechten Demonstration waren aber nicht nur Neofaschisten/Neonazis, sondern stammten vor allem aus dem noch aktivierbaren rechtsradikalisierten Rest der Pandemie-Leugner*innen. Vertreten waren aber auch AfD-Mitglieder und -Fans. In der Symbolik kam es dadurch zu einer seltsamen Mischung. Sie reichte von der blauen PACE-Fahne bis zum Reichsadler.
In Stuttgart war ein Orga-Team verantwortlich, welches bereits ab 2022 zahlreiche medienfeindliche Demonstrationen vor dem SWR-Gebäude in Stuttgart organisiert hatte.
Versammlungseiter waren Ralf Behr und Andreas R.. Als Mitorganisatorinnen fungierten die Gruppen „Baden-Württemberg steht auf“ und „Politik und Medien Hand in Hand – Das schadet unserem Land“, die dem Milieu der Corona-Proteste entstammen. Von ihnen stammte auch die Infrastruktur.
Neben Ralf Behr und Andreas R. sprach zu Demo-Beginn auch eine Astrid. In den Redebeiträgen beschwor man die Demokratie („Wir sind Demokraten.“), distanzierte sich formal von Gewalt, Antisemitismus und ‚Extremismus‘ und lobte den Querdenken-Chef Michael Ballweg. Außerdem sprach man sich gegen die Schuldenbremse und gegen Spaltung aus.
Ralf Behr erzählte dass sein Orga-Team die Anmeldung und Organisation der Demonstration in Stuttgart erst spät übernommen habe.
Die eher wutbürgerlichen Inhalte dürften nicht so ganz nach dem Geschmack der antibürgerlichen Neonazis gewesen sein. Denn diese waren auch da und nutzen die Demonstration als Präsentations-, Rekrutierungs- und Vernetzungs-Ort.
Folgende klassische neonazistische/neofaschistische Gruppen bzw. Gliederungen größerer Gruppen konnten wir vor Ort oder über ihre Social-Media-Berichte identifizieren:
- die Neonazi-Kleinstpartei „Der. III. Weg“ und und ihre Jugendorganisation „Nationalrevolutionäre Jugend“ mit 15 bis 20 Personen
- „Der Stör-Trupp South“ und „Der Störtrupp Stuttgart“ mit etwa 30 Personen
- die Neonazi-Kleinstpartei „die Heimat“ und ihre Jugendorganisation „Junge Nationalisten“, u.a. in Form ihrer Landesvorsitzenden Marina Djonovic und Sebastian Thalheimer
- „Revolte Pforzheim“
- „Unitas Germanica Baden-Württemberg“
- „Zollern-Jugend aktiv“, mit starken Überschneidungen zu den „Jungen Nationalisten“
Es ließen sich noch weitere extrem rechte Einzelpersonen wie Michael Stecher oder Rico Heise (Betriebsprojekt „Zentrum“) identifizieren.
Außerdem waren noch jüngere rechte Jugendliche vor Ort, die offenbar auf der Suche nach Anschluss waren.
Neben diversen Pandemie-Leugner*innen waren auch Angehörige der AfD vor Ort, ohne das aber durch Partei-Symbolik zu zeigen. In einem internen Chat hatten z.B. Uwe Foltan aus Haigerloch, 1. stellvertretender Sprecher des AfD-Kreisverband Zollernalb, oder Ralph Floeter, Beisitzer AfD-KV Ludwigsburg, ihr Kommen angekündigt. Ein Bericht der AfD-Kreisverband Ludwigsburg vom 24. März zeigt mehr als zwei Dutzende Personen auf einem Foto von der Demonstration.
Daneben ließen sich einzelne Alt-Neonazis, Mitglieder der Identitären-Regionalgruppe „Reconquista 21“ oder bekanntere Reichsbürger*innen in Stuttgart blicken.
Bewertung: ungesunde Mischung mit braunen Kern
Zu einer Nur-Neonazi-Demonstration hat es in Baden-Württemberg ganz offensichtlich nicht gereicht. Den Anteil von gewaltbereiten Neonazis bzw. Jungfaschos schätzen wir auf mehr als 200 Personen, also etwa 1/7 aller Teilnehmenden. Damit war diese Demonstration zwar die größte Neonazi-Veranstaltung der letzten Jahre, war insgesamt aber eine Misch-Veranstaltung und erreichte noch nicht das Potenzial klassischer Neonazi-Demonstrationen wie in den 1990er, 2000er und 2010er Jahren im Südwesten. Beispielsweise fand am 1. Mai 2011 eine große Neonazi-Demonstration in Heilbronn mit fast 830 Beteiligten statt, die durchgängig dem Spektrum der parteigebundenen und parteifreien Neonazis entstammte.
Immer noch ist es als relative Schwäche zu interpretieren, wenn Neonazis in Baden-Württemberg keine eigene Demonstration hinbekommen, sondern auf die rechts-offenen Pandemie-Leugner*innen und ihre Infrastruktur zurückgreifen mussten.
Einigen Pandemie-Leugner*innen ist selber aufgegangen, dass da am Samstag klassische Neonazis mitmarschierten. Zu dicht waren die NS- und Neonazi-Symboliken wie Reichsadler, Landser-Pullover oder White-Power-Gruß. Hier existiert offenbar bei einigen ein Anteil von Restvernunft. Die Kritik einiger an der Neonazi-Beteiligung führte aber nur bei wenigen zu Abwendung und Distanzierung, die Mehrheit, inklusive des Orgateams, griff die internen Kritiker*innen als „Spalter“ an.
Die nächste bundesweite Demonstration ist bereits angekündigt. Sie soll am 26. April 2025 stattfinden.